Er wurde theoretisch, fast philosophisch, während er
nach Hause fuhr. Er fragte sich, woher wohl diese unkontrollierten Hasstiraden
in seinem Kopf kämen, denn eigentlich war er gleichgültig. Grundsätzlich
war er schon immer der Meinung gewesen, Frauen sollten Ihr Geld nicht
auf der Straße verdienen müssen, doch der Grundsatz lässt schliesslich
die Ausnahme zu, und sie musste so eine Ausnahme gewesen sein. Sie hatte
ihr Geld auf der Strasse verdienen sollen, und das war gut so. Sie hatte
es verdient! Nicht so sehr, weil es wirklich ein mieser Job gewesen
wäre - nein, soviel Mühe machten sie sich ohnehin nicht. Zwar waren sie
mit schützenden Plastikhüllen längst ausgerüstet, doch wenn es regnete,
befand man sich in relativer Sicherheit. Ein warmes Gefühl der Entspannung
verbreitete sich dann in seiner Magenkuhle, wenngleich es auch Damen gab,
die - von einer Passion getrieben - nach Befriedigung in ihrem Beruf strebten,
was unweigerlich das Geldverdienen auch bei schlechtem Wetter einschloss
- auf der Strasse! Diese Damen allerdings waren eine weitere Ausnahme
von einem anderen Grundsatz und verdienten fast schon wieder Respekt. Sie waren nicht das Problem. Das Problem waren die von
ihrer Lust getriebenen Damen der ersten Kategorie, und sie hatten es verdient,
auf der Strasse arbeiten zu müssen, weil ... Er wusste es nicht, aber
das war auch egal! Er hasste sie, denn sie hatten es an diesem Tag übertrieben,
in ihrer unendlichen Unwissenheit und Pflichterfüllung, auf die sie sich
wahrscheinlich sogar dann noch berufen hätten, wenn er ihnen die näheren
Umstände jenes Tages dargelegt hätte. "Zu Recht", dachte er noch, doch
jetzt hasste er sie im Kollektiv, sie und ihresgleichen, deren menschliches
Antlitz sich in seinen Phantasien zur Fratze verzerrte. Wie von einer fremden, unsichtbaren Hand geschoben ging
er zuvor nichtssagende Gänge entlang, die scheinbar jede räumliche Dimension
verloren hatten, hindurch durch eine Luft, die das Atmen schier unmöglich
machte. Aber vielleicht war es auch jene Hand, die sich nun gewichtig
auf seine Schulter legte und ihm langsam den Hals zuzudrücken schien. Er passierte den Haupteingang und stieg wie ferngesteuert
die Treppenflucht hinauf zur Straße. Bevor er seinen auf der gegenüberliegenden
Seite parkenden Wagen erreichte, glaubte er noch, ein vages Hupen zu erkennen
und Menschen, die wild gestikulierend auf ihn deuteten. Er tastete in
seiner rechten Hosentasche nach seinem Schlüssel, öffnete und ließ sich
unter dem Gewicht all seiner Verzweiflung in den Fahrersitz sinken. Für
einen Moment glaubte er, ins Bodenlose zu stürzen, als er den kleinen
weißen Zettel an der Windschutzscheibe bemerkte. Er war falschherum hinter
den Scheibenwischer geklemmt worden, wie ohnehin der ganze Tag falsch
gewesen zu sein schien. Die Schrift jedenfalls war ihm zugewandt, und
sein Kinn auf das Lenkrad stützend las er immer wieder ohnmächtig die
Worte "Verwarnung mit Verwarngeld DM 10,--". Er schien durch das Papier hindurchzustarren, irgendwohin.
Zehn Minuten hatte er über die erlaubte Zeit geparkt. "Zehn Minuten",
"zehn Mark", " zehn mal sechs, mal vierundzwanzig, mal dreihundertfünfundsechzig,
mal...". Wieviel mochte das wohl sein? Er wusste auch das nicht, und ohnehin
hätte er soviel Geld im Leben nicht zusammenbekommen können. "Zehn Minuten",
dachte er! Zehn Minuten, in denen er lebte und seine Freundin mit dem
Tode rang! Er verließ den Parkplatz des Krankenhauses und fuhr los.
(F. Peter)
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