Schrot - Smells Like Children

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Die Nase des Jungen lief. Aus seinen rotgeweinten Augen schossen eimerweise Krokodilstränen hervor und rollten seine Wangen herab. Normalerweise keimt mit diesem Zustand die Hoffnung, ihn möglichst schnell zu beenden. Nicht aber bei Klaus. Er ließ die Tränen kullern und schwieg beständig. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, bis Frau Römer ihn daran hindern wollte, aufzustehen.

1

Doch diesen Versuch bereute sie spätestens zu dem Zeitpunkt, als sie neben ihrem Stuhl auf dem Fußboden wieder zur Besinnung kam. Klaus war nicht mehr hier, und während sich der Kopf der Pädagogin langsam wieder klärte, stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Sollte sie sich während ihrer kurzen Ohnmacht etwa in die Hose gemacht haben? Sie stellte fest, daß zwar ihr Kleid, nicht aber ihr Schlüpfer naß war. Außerdem fehlte ihr ein Schuh. Sie malte sich aus, was sie mit diesem undankbaren Schüler anstellen würde, wenn sie ihn wiedersah.
Sie stand auf, nahm ihren Mantel vom Haken und schloß die Kellertür hinter sich. Eine Klinke war nur an der Innenseite vorhanden, von außen ließ sich die Tür nur mit einem Schlüssel öffnen. Der Schulhof war leer, so mußte sie niemandem ausweichen. Auch das Gebäude war leer, denn eine Woche zuvor hatten die Schulferien begonnen.

Sie bog auf die Hauptstraße ab und konnte sich nicht der leisen Hoffnung erwehren, ihren aufsässigen kleinen Schüler doch noch zu erwischen. Die Turmuhr schlug zweimal. Ihre Chancen, Klaus zu finden, waren nicht gut, denn nicht einmal der Mond schien, und in dem Kaff, in dem sie sich befand, wurden nach Mitternacht die Bürgersteige hochgeklappt. Es war also ein Leichtes für Klaus, sich irgendwo zu verstecken. Sie wußte, daß sein Schulweg nur mit dem Bus zu bewältigen war, ergo würde er Stunden brauchen, um sein Elternhaus zu erreichen. Bei diesen Temperaturen würde er vorher erfrieren.

Sie fuhr an einer beleuchteten Fensterwand vorbei. Eine Post hatte dieses Dorf ebensowenig wie eine Tankstelle, aber ein Polizeirevier. Ob der kleine Hosenscheißer es wagen würde, sie dort anzuzeigen? Bei aller Zeit und Mühe, die sie für ihn aufgebracht hatte? War das sein Dank?
Sie reduzierte die Geschwindigkeit ihres Wagens und versuchte, durch die Fenster etwas erkennen zu können. Es blieb zu ihrem Ärger beim Versuch, denn nikotingelbe Vorhänge versperrten ihr die Sicht. Zwei unbemannte Wagen standen vor der Tür, am Geländer lehnte ein Fahrrad.

Nein, so clever war er nicht. Sie mochte ihn gern, traute ihm aber nicht viel zu. Vielleicht war ja gerade das der Grund für die Sympathie, die sie ihm entgegenbrachte.

Sie beschleunigte wieder und steuerte einige Zeit später das Parkhaus an, das neben dem Betonklotz in den Boden gerammt worden war, in dem sie wohnte. Sie verfluchte den Schneematsch, als sie den nicht überdachten Weg vom Parkhaus zur großen Eingangstür ihres Wohnblocks beschritt. Zu allem Übel hatte es wieder angefangen zu schneien. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel, sie konnte kaum einen Meter weit sehen. Diese Gegend war so heruntergekommen, daß es nicht einmal eine unterirdische Verbindung beider Gebäude gab. Wahrscheinlich war das Parkhaus nicht einmal unterkellert. Das würde auch den widerlichen Gestank nach Moder und Verwesung erklären, der jeden ihrer kurzen Heimwege begleitete.

In ihrer Wohnung angekommen, entledigte sie sich sämtlicher Kleidung und duschte ausgiebig. Während sie sich mit ihrem großen, weichen Schwamm von der ekelhaften Demütigung zu reinigen versuchte, überlegte sie, wie sie ihren ungehorsamen kleinen Liebling bestrafen könnte.

Sie stieg aus der Wanne und hüllte sich in ihren flauschigen Morgenrock, den sie anstelle eines Handtuchs zu benutzen pflegte. Sie setzte Teewasser auf und ging ins Schlafzimmer, um sich Schlappen über die nackten Füße zu ziehen. Ihr linker Fuß war immer noch kälter als der andere, aber es war inzwischen auszuhalten. Sie sah in den Spiegel.
Zweifellos wird der Kleine dem nächstbesten Erwachsenen, den er traf, eine ziemlich unglaubwürdige Geschichte aufgetischt haben. Allerdings würde allein die Tatsache, daß ein Neunjähriger nachts um Drei durch die Straßen irrt, seine Geschichte glaubwürdiger erscheinen lassen, als wenn er sie mittags um Zwölf erzählt hätte. Daran konnte auch seine Nacktheit nichts ändern. Andererseits war die Chance, überhaupt jemandem zu begegnen, am zweiten Weihnachtsfeiertag recht gering. Die meisten Menschen, die jetzt noch nicht schliefen, saßen selig vor den ausbrennenden Kerzen am Weihnachtsbaum, den sie zwei oder drei Tage vorher liebevoll geschmückt hatten. Die Kinder waren längst im Bett, und ein letztes Glas Rotwein oder Cognac standen auf dem Tisch. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß man so lange sitzen blieb, bis alle Gläser leer waren.
Das Glück, Weihnachten mit ihrer Familie teilen zu können, war Claudia nicht vergönnt. Ihre Eltern waren tot, und einen Mann gab es in ihrem Leben ebensowenig wie eigene Kinder. Ihre Schüler waren ihre Kinder. Sie gaben ihrem Leben den Sinn.

Nein, die Straßen waren leer, und die bemitleidenswerten Beamten, die das Polizeirevier besetzen mußten, waren sicherlich zu müde oder zu angetrunken, um heute nacht auf Streife zu gehen oder zu fahren. Abgesehen davon hatten sie sicherlich besseres zu tun.

2

Und da irrte sich Claudia zum erstenmal für heute abend nicht. Klaus war mit letzter Kraft zur nächsten Polizeistation gelangt und hatte dort zwei Polizeibeamte angetroffen, die ihm fürs erste mit einem Becher heißem Kaffee und einem muffig riechenden Morgenmantel aushelfen konnten. Die Frage, was er denn um diese Zeit allein auf der Straße mache, beantwortete Klaus mit einer Geschichte, die die Beamten vorerst nicht glauben konnten.

3

Das Pfeifen des Wasserkessels riß Claudia aus ihren Gedanken. Sie ging in die Küche, schaltete den Herd aus und brühte sich einen Tee auf. Ihre Brillengläser beschlugen, und kurzfristig erblindet stellte sie den Kessel auf eine kalte Herdplatte.
Mit der dampfenden Teekanne in der einen und einem leeren Becher in der anderen Hand ging sie ins Wohnzimmer. Ob noch ein alter Film im Fernsehen lief? Sie stellte die Kanne und den Becher auf den Tisch und knipste den Fernsehapparat an.

Als sie sich nach einer Weile anschickte, den inzwischen wohl trinkbaren Tee in den Becher zu gießen, klingelte das Telefon. Sie zuckte so sehr zusammen, daß sie sich verbrühte. Fluchend stand sie auf, um das Mobilteil zu holen, das sie wieder einmal vergessen hatte, in greifbarer Nähe aufzubewahren.

Wer sollte sie zu dieser späten Stunde noch anrufen? Hatte Klaus es wirklich geschafft, Unterschlupf zu finden? War er nicht, wie es zu erwarten war, längst der Kälte zum Opfer gefallen? Seine Kleidung hatte sie schließlich verbrannt, kurz nachdem sie ihn im Schulkeller in Gewahrsam genommen hatte. Nur seinen Rucksack, den er im Mülleimer in der Ecke deponiert hatte, hatte sie übersehen. Sie hatte es nur gut mit ihm gemeint, als sie ihm erlaubt hatte, sich ein Getränk zu holen. Wie hätte sie auch ahnen können, daß es sich dabei um eine volle Seltersflasche handelte? Er mußte sie dann mit der Pulle am Kopf erwischt haben. Sie überlegte, wie groß ihre Erinnerungslücke wohl war, und wurde sich zum erstenmal an diesem Abend des Pochens an ihrer linken Schläfe bewußt. Dieser Hosenscheißer hatte sie so sehr erwischt, daß sie ohnmächtig geworden war! Und dieser bedauernswerte Zustand hatte lange genug gedauert, um ihm die Flucht aus dem Keller zu ermöglichen. Sogar den Schlüssel muß er aus ihrer Handtasche genommen haben, denn die Tür hatte sie nach dem Eintreten von innen verschlossen. Einen Augenblick fragte sie sich, warum er sie nicht dort im Keller eingesperrt hatte, gab dann aber seiner verständlichen Angst, nicht schnell genug das Haus verlassen zu können, die Schuld. Plötzlich fiel ihr ein, was sie sonst noch in ihrer Handtasche aufbewahrte. Ihr Magen dankte ihr diese Erkenntnis mit einem Schmerz, der es mit den Folgen eines Messerstichs locker hätte aufnehmen können.

Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Sie zog den Stecker aus der Dose. Als sie aus der Hocke wieder zum Stehen kam, wurde Ihr fast schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ein Schweißtropfen von ihrer Stirn perlte und ein Brillenglas benetzte, so daß sie die Wand, die sie anstarrte, nur verschwommen wahrnehmen konnte. Auf dem Weg ins Schlafzimmer nahm sie die Brille ab, um sie zu säubern. Claudia starrte auf ihre Handtasche, die sie nach ihrer Ankunft auf das Kopfkissen geworfen hatte. Sie schluckte trocken und öffnete den Verschluß. Ihre schlimmsten Vorahnungen wurden bestätigt: Nicht nur der Schlüssel zum Schulkeller fehlte, was zu erwarten war, nein, auch das Etui mit den Fotos ihrer Schüler war nicht mehr da.

4

"Hier, Herr Wachtmeister, diese Fotos habe ich in Frau Römers Handtasche gefunden. Ich kenne einige der Kinder, die dort abgebildet sind." Klaus deutete mit einem Finger auf eins der Fotos, die nebeneinander auf dem Tisch lagen. "Das hier ist Susanne, sie ist während der Klassenfahrt nach Niendorf verschwunden. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Und hier", er deutete auf ein anderes, "das hier ist Simon. Simon ist beim Schwimmen bei einer Exkursion letzten Sommer nicht wieder an den Strand zurückgekommen." Klaus nahm ein drittes Bild in die Hand, um es näher zu betrachten. Er stutzte. "Das bin ja ich!" Der Beamte zu seiner Linken nahm das Bild aus Klaus' Hand und gab ihm recht. Es lagen insgesamt zehn Fotos auf dem Tisch, einige bunt, andere schwarzweiß.

Nach einer Weile hatte der andere Polizist den PC hochgefahren und festgestellt, daß es sich bei den anderen neun Fotografien um eine komplette Sammlung der in den letzten Monaten verschwundenen Kinder handelte. Seine Hände zitterten, als er die Fotos auf den Tisch zurücklegte. Er bat seinen Kollegen um eine Zigarette, der sich auch eine ansteckte.

Daß alle diese Kinder verband, Schüler von Frau Römer (gewesen?) zu sein, war den Polizisten damals nicht aufgefallen. Sie hatten neben Nachbarn und Mitschülern natürlich auch die besorgte Klassenlehrerin befragt, aber sie natürlich nicht verdächtigt, etwas mit dem Verschwinden zu tun zu haben. Sie hatte sich stets kooperationsbereit gezeigt, ohne ihnen jedoch weiterhelfen zu können.

5

Claudia stand auf und ging zu ihrer kleinen Hausbar. Sie trank selten, aber jetzt war sie froh, die Whiskyflasche, die ihr das Kollegium zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, nicht abgelehnt zu haben. Sie goß den Becher, der noch zur Hälfte mit Tee gefüllt war, randvoll und nahm einen kräftigen Schluck. Die wohlige Wärme, die der Tee in ihrem Magen hatte walten lassen, wurde vom heißen Brennen des Whiskys ergänzt, was sie sehr begrüßte. Sie setzte sich und legte ihre Füße auf den Couchtisch, um zu überlegen, wie sie sich aus dieser Misere herausmanövrieren könnte.
Dann klingelte ihr Handy. Sie verfluchte ihren Leichtsinn, die Nummer im Telefonbuch eintragen haben zu lassen, und stellte den Ton aus. Die angezeigte Nummer sagte ihr nichts, aber sie schrieb sie sich auf und holte dann ihr Telefonbuch, um ihre düstere Vorahnung bestätigt zu finden: Es war die Nummer des hiesigen Polizeireviers. Sollte es der Hosenscheißer tatsächlich geschafft haben, bei 7 Grad minus nackt die Polizeistation zu erreichen? Sie konnte es kaum glauben. Sie trank ihren Becher aus und stand auf, um sich anzukleiden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie bei ihr vor der Tür standen.

6

Der Polizeibeamte legte den Hörer auf die Gabel. "Sie scheint nicht zu Hause zu sein. Oder sie geht nicht ans Telefon. Vielleicht schläft sie auch schon und hat ihre Telefone abgestellt."
"Die schläft bestimmt nicht", warf Klaus ein, "die sucht mich bestimmt noch auf der Straße. Sie ist verrückt. Und sie wird erst schlafen können, wenn sie mich wieder eingesperrt hat. Wir sollten zu ihr fahren. Irgendwann wird sie schon nach Hause kommen, und dann können Sie sie festnehmen."
Die Beamten gaben ihm recht. Einer stand auf und nahm seine Jacke vom Haken. "Aber vorher fahre ich dich nach Hause, mein Junge. Deine Eltern müssen krank vor Sorge sein, du bist schließlich seit fünf Tagen nicht nach Hause gekommen. Sie haben ja auch eine Suchanzeige aufgegeben. Vielleicht sollten wir vorher bei ihnen anrufen, damit sie auf unseren Besuch vorbereitet sind."
"NEIN!" rief Klaus, das sei nicht nötig. Der Beamte, der sich gerade die Jacke zuknöpfte, sah ihn verwirrt an. "Ich meine", räumte Klaus ein, "sie sind sicher noch wach, sie gehen an Feiertagen immer recht spät ins Bett. Es reicht, wenn Sie mich vor der Tür absetzen. Sie werden ja sehen, daß das Licht noch brennt. Meine Eltern mögen keine Polizisten."
"Aha. Ich denke trotzdem, es ist das beste, wenn wir beiden erst einmal zu deinem Elternhaus fahren. Du wirst bestimmt froh sein, endlich wieder nach Hause zu kommen."

7

Claudia fuhr schnell, und jede Kurve, die sie nehmen mußte, erschien ihr zu eng. Der Whisky wirkte stärker, als sie es geplant hatte. Aber dennoch erreichte sie nach etwa zehn Minuten unbeschadet ihr Elternhaus, einen alten Bauernhof, der seit Jahren nicht mehr bewohnt wurde. Sie stieg aus und öffnete die Haustür, die von Spinnenweben benetzt war. Normalerweise benutzte sie den Kellereingang. Sie entzündete die Petroleum-Lampe, die sie auf dem Garderobentisch aufzubewahren pflegte, und ging durch das Empfangszimmer weiter in die Wohnstube. In der Küche angekommen, schaltete sie die Sicherungen für das Erdgeschoß ein, und die Glühbirnen, die diese Störung ihrer jahrelangen Ruhe überlebten, ließen das Haus in neuem Glanz erstrahlen. Zufrieden stellte Claudia die Petroleumlampe auf den Küchentisch und wartete, bis sie ein Auto vorfahren hörte.

8

Klaus wurde unruhig, als der Polizeiwagen in die Straße einbog, die er dem Beamten als Ziel vorgegeben hatte. "Sie können mich hier aussteigen lassen, Herr Wachtmeister."
"Nein, mein Junge, ich halte es für besser, dich persönlich abzugeben."
"Wie Sie meinen."
Der Wagen kam zum Stehen. Klaus stieg aus und ging hinter dem Polizisten zu dem hell erleuchteten Haus, in dem, wie der Beamte glaubte, seine Eltern wohnen.
Es war kalt im Morgenmantel, wenn auch viel wärmer als vorher, als er nackt zum Revier gegangen war. Da ihm Frau Römers Schuh zu groß war, hatte er ihn vorhin in seinem Rucksack verstaut, den er jetzt auf dem Rücken trug.
Die Haustür öffnete sich, und bevor der Polizist sich persönlich vorstellen konnte, wurde er niedergeschossen. Er sackte in sich zusammen, und sein Blut tünchte den ihn umgebenden Schneematsch in ein feierliches Dunkelrot, wie es sich für den zweiten Weihnachtsfeiertag gehörte.
"Ich wußte, daß ihr kommen werdet", sagte Frau Römer. "So leicht entkommst Du mir nicht, mein Bübchen. Nicht nur, daß Du meine Fotos geklaut hast, nein, Du mußtest auch noch die Polizei in mein Haus bringen!" Der Colt in ihrer Hand rauchte. Wollte sie ihn ein zweites Mal gebrauchen? Klaus war sich relativ sicher, daß er seiner Lehrerin tot nicht viel nützen würde. Er sah sich auf der sicheren Seite. "Jetzt siehst du, was du davon hast! Ein unnötiges Opfer, ein Beamter unseres Staates. War das wirklich nötig, Klaus? He! Hörst du mir überhaupt zu? Du ... du kleiner ..."
Ein Schuß ertönte, und Frau Römer fiel zur Seite. Es platschte, denn sie landete in einer Pfütze nahe der Hauswand. Der Schnee war an dieser Stelle geschmolzen, sonst wäre sie weicher gefallen.
Der zweite Polizist war nicht auf dem Revier geblieben, nachdem er die Adresse, die Klaus angegeben hatte, einem leerstehenden Haus hatte zuordnen können. Er war ein guter Schütze und sich sicher, daß seine Kugel Frau Römers Herz durchbohrt hatte. Deshalb genügte ihm auch ein rascher Blick auf ihren regungslosen Körper, der neben dem Hauseingang im Dunkeln lag. "Glatter Durchschuß", diagnostizierte er, obwohl Frau Römer nur schemenhaft zu erkennen war.
Für seinen Kollegen konnte er leider auch nichts mehr tun. Er hatte sich schnell wieder gefaßt. "Alles in Ordnung, Klaus?" fragte er.
Klaus erwiderte: "Ja, Herr Wachtmeister. Das ist ja noch mal gutgegangen. Und sie ist wirklich tot? Ich meine ..."
"Nun ja, ganz sicher kann man natürlich nur sein, wenn ein Arzt den Todesschein ausgestellt hat. Aber - und das versichere ich dir als erfahrener Beamter - die Chancen, daß sie einen solchen Schuß in die Brust überlebt, sind gering. Zumal wir ja auch keinen Krankenwagen gerufen haben." Er steckte seine Waffe wieder ein. "Wir lassen hier am besten alles liegen, die Spurensicherung hat es nicht gerne, wenn ..."
"Aber zuerst", unterbrach ihn Klaus, "sollten wir in den Keller gehen, meinen Sie nicht auch? Wer weiß, in welchem Zustand sich die Kinder befinden - wenn sie überhaupt noch am Leben sind! Es sind schließlich auch einige Klassenkameraden von mir dabei!"
"Hm ... na gut, das nächste Revier kann ich auch noch gleich anrufen, wir gucken erst mal nach den entführten Kindern.

Der Keller war staubig und roch nach Verwesung. Aber ein anderer Geruch stieg dem Beamten in die Nase, während sie die Treppe hinabstiegen. Er erinnerte ihn an den Geruch, der einem Umkleideraum anhaftete, in dem er sich vor dreißig Jahren für die Turnstunde hatte umziehen müssen. Turnstunden waren ihm immer zuwider gewesen.
Klaus blieb stehen und drehte sich zum Polizisten um. "Ich denke", rief er, "daß sie hier die Kinder aufbewahrt. Es riecht nach Kindern. Finden Sie nicht auch?"
Der Beamte schluckte und gab Klaus keine Antwort. Ihm war nicht geheuer in diesen Gefilden, und es stand ihm bevor, auf neun teilweise schon verweste Kinderleichen zu treffen. Ein toter Kollege reichte ihm für diese Woche. Hinzukam, daß er in Klaus' Augen keinerlei Furcht erkennen konnte, eher Freude. Das machte ihm angst. Wie um sich zu beruhigen, rief er laut: "Hallo! Ist hier jemand?"
Unten angekommen, folgten sie dem schmalen Gang, der nach etwa vier Metern an einer schweren Eisentür endete. Der Polizist klopfte gegen die Tür und versuchte es erneut: "Hallo! Ist hier denn niemand? Hallo!"
Auf einmal ertönten laute Schreie, die zweifellos aus Kinderkehlen stammten. Die Tür mußte so dick sein, daß sein erster Ruf nicht bis zu den Kindern durchgedrungen war. Herbert, so hieß der Polizeibeamte, der noch stand, zog seine Waffe. Vorsichtig ging er weiter, bis er dicht hinter Klaus stand. Dieser drehte den Schlüssel und öffnete die Tür. Genau neun Kinder kamen zum Vorschein, die sich verwundert über den unerwarteten Besuch zeigten. Einige weinten, andere schrieen. Aber als sie Herberts Uniform erkannten, kamen alle in den Flur gelaufen, um dem Polizisten um den Hals zu fallen. Sie wogen sich in Sicherheit, denn auf die Polizei ist Verlaß. Das hatten ihnen alle Lehrer übereinstimmend versichert. Seltsamerweise beachtete keines der Kinder Klaus, der etwas verloren drei Meter von seinen Altersgenossen entfernt in der Tür stand. Aber die Kinder forderten den Beamten so sehr, daß er beschloß, sich darüber erst später Gedanken zu machen. Er war sehr erleichtert, die Kinder wohlbehalten gerettet zu haben. Frau Römer schien keine Komplizen gehabt zu haben. Die Kinder waren endlich wieder frei. "Genug, Kinder!" brachte er hervor. Er war es nicht gewöhnt, von einer begeisterten Kinderschar bedrängt zu werden. Seine Tochter schlief sogar nachts meistens durch. Nach einigem guten Zureden ließen sie endlich von ihm ab. "Es scheint euch ja ganz gut zu gehen. Nur wie dünn ihr geworden seid! Aber das Warten hat ein Ende, ich gehe jetzt zum Streifenwagen und ordere einen Bus für euch, denn in meinen Passat paßt ihr nicht alle hinein. In der Zwischenzeit könnt ..."
Eine Kugel durchbohrte seinen Rücken und traf sein Herz. Während er zusammenbrach, konnte er einen letzten Blick auf Klaus werfen, der mit verschränkten Armen auf ihn zukam. Bevor er seinen letzten Atemzug tat, spürte er noch, wie Klaus seine Dienstwaffe aus dem Halfter zog.

Die Kinder hatten die Schocksekunden entsetzten Schweigens schnell hinter sich gelassen und kreischten lauter denn je, wenn auch alles andere als erfreut. Sie rannten in den Raum zurück, aus dem sie eben befreit worden waren. Das letzte Kind zog die Tür hinter sich zu.

Frau Römer stieg die Treppe herab. Mit jedem Schritt wurde ihre Stimme lauter. "Hast du deine Lektion immer noch nicht gelernt? Habe ich dich nicht gelehrt, dich zurückzuhalten? Solltest du nicht längst auf deinem Zimmer sein? Was machst du überhaupt hier? Ich habe dir vertraut, habe dir alles anvertraut, und jetzt bringst du die Polizei hierher!"
Klaus sah zuerst ihre Füße, dann ihre Beine, ihren Rumpf und schließlich ihre Brust. Er griff in seine Manteltasche und entsicherte die Waffe. Ihm war bewußt, daß Kugeln in ihre Brust nichts ausrichten konnten. Unter ihrer klatschnassen Latzhose schien sie eine kugelsichere Weste tragen. Aber er mußte die Kinder retten. Sie waren dünn, ausgemergelt und hungrig. Kinder müssen immer genug zu essen bekommen, dessen war Klaus sich sicher. Und wenn Frau Römer auch ihn erschoß, dann gab es für die Kinder wohl keine Rettung mehr.

9

Das Telefon klingelte. Aber niemand nahm ab. Das Revier war nicht besetzt. Ein weiterer Krimineller durfte seine Tat ungestört beenden.

10

Eine Kugel in ihren Kopf sollte ihren Dienst tun. Klaus ging in die Hocke, zielte genau und verfehlte sein Ziel nicht. Frau Römer taumelte, gab einen Laut von sich, der dem Gurren einer Taube ähnelte, und fiel um. Leblos rollte sie langsam sie Treppe hinunter, überschlug sich dabei mehrfach, bis sie mit völlig verdrehten Gliedmaßen auf den unteren beiden Treppenstufen liegenblieb. Die Pistole hielt sie fest mit ihrer rechten Hand umklammert.
Das riesige Einschußloch auf ihrer Stirn bestaunend, wunderte Klaus sich erneut, wie eine kugelsichere Weste etwas gegen solch eine Waffe ausrichten konnte - die Knarre des Polizisten hatte mächtig Wumms. Dann ließ Frau Römer ein rasselndes Geräusch vernehmen. Klaus stutzte, denn er hielt sie bereits für tot. "Nur für dich getan ... alles ... nur für dich ..." glaubte Klaus ihren letzten Lauten zu entnehmen. Dann wich das Leben entgültig aus ihrer fleischigen Hülle. Ihre Augen schienen aus Glas zu sein, sie fokussierten die Unendlichkeit.

Klaus stieg über die Leiche seiner Lehrerin hinweg und ging langsam die Treppe hinauf. Die erregten Stimmen der Kinder wurden leiser. Als er in der Küche ankam, waren sie kaum mehr zu hören. Nun ja, dachte Klaus, beliebt war er nicht bei den Kindern, da wollte er sich gar nichts vormachen, besonders nicht bei den neun, die hier waren. Er überlegte, was die Worte der Sterbenden eben hatten bedeuten sollen. Sie hatte alles nur für ihn getan? Hm, das würde natürlich erklären, weshalb sie alle Kinder, die ihn gehänselt oder verprügelt hatten, nach und nach hatte verschwinden lassen, aber warum hätte sie das tun sollen? Sie hatte zweifellos einen gewaltigen Sprung in der Schüssel, dessen war er sich sicher.

Aber das machte jetzt auch nichts mehr, denn er mußte seinem Vorhaben nachkommen, sich um seine Schulfreunde zu kümmern. Man muß schließlich etwas zur Erhaltung der Klassengemeinschaft tun!
Das Fleischermesser und eine große Gabel mit zwei Zinken fand er in der zweiten Schublade, drei große Plastikschüsseln in Schrank über der Spüle. Er heizte den Backofen vor, wässerte den Römertopf und nahm ein paar Handtücher vom Haken. Hatte er an alles gedacht? Er kratzte sich am Hinterkopf, während er sich in der Küche umsah.
Er legte Besteck und Handtücher in die Schüsseln, die er gestapelt hatte, und pries noch einmal den Polizisten, der zum Glück kein Schrotgewehr bei sich getragen hatte. Es ist sehr unangenehm, auf ein Schrotkorn zu beißen. Dieser Umstand hatte ihn schon immer beim Hasenbraten seiner Mutter gestört.

Klaus konnte seinen Hunger kaum noch ertragen, wußte aber, daß es noch etwas dauern würde, denn ein Römertopf braucht seine Zeit. Dafür wurde das Fleisch aber auch sehr kalorienarm zubereitet. Das ist für Kinder mit leeren Mägen besser als fette, in Öl gebratene Keulen, auch wenn diese knuspriger werden.

Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg er die Kellertreppe hinab. Die unteren drei Stufen überwand er mit einem ausgelassenen Sprung, bei dem die Fleischgabel aus der Schüssel klirrend zu Boden fiel. Die Eisentür, hinter der die Kinder sich verschanzt hatten, war immer noch geschlossen. Die Schreie waren einer aufgeregten Diskussion gewichen, alle redeten durcheinander. Klaus drehte den Schlüssel, der im Schloß steckte, zweimal um. Es sollte eine Überraschung werden. Ein Festmahl zur Versöhnung. Und er konnte es nicht leiden, bei seinen Vorbereitungen gestört zu werden. Nach reiflicher Überlegung entschied sich Klaus dafür, mit der Zubereitung ihres linken Oberschenkels zu beginnen. Frau Römer war gut durchtrainiert, aber im Römertopf wurde nichts so schnell zäh, wenn man den Deckel draufließ.


© 2002 Ralf Richter