0 Die Nase des Jungen lief. Aus seinen rotgeweinten Augen schossen eimerweise Krokodilstränen hervor und rollten seine Wangen herab. Normalerweise keimt mit diesem Zustand die Hoffnung, ihn möglichst schnell zu beenden. Nicht aber bei Klaus. Er ließ die Tränen kullern und schwieg beständig. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, bis Frau Römer ihn daran hindern wollte, aufzustehen. 1 Doch diesen Versuch bereute sie spätestens zu dem Zeitpunkt,
als sie neben ihrem Stuhl auf dem Fußboden wieder zur Besinnung kam. Klaus
war nicht mehr hier, und während sich der Kopf der Pädagogin langsam wieder
klärte, stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Sollte sie sich während
ihrer kurzen Ohnmacht etwa in die Hose gemacht haben? Sie stellte fest,
daß zwar ihr Kleid, nicht aber ihr Schlüpfer naß war. Außerdem fehlte
ihr ein Schuh. Sie malte sich aus, was sie mit diesem undankbaren Schüler
anstellen würde, wenn sie ihn wiedersah. Sie fuhr an einer beleuchteten Fensterwand vorbei. Eine
Post hatte dieses Dorf ebensowenig wie eine Tankstelle, aber ein Polizeirevier.
Ob der kleine Hosenscheißer es wagen würde, sie dort anzuzeigen? Bei aller
Zeit und Mühe, die sie für ihn aufgebracht hatte? War das sein Dank? Nein, so clever war er nicht. Sie mochte ihn gern, traute ihm aber nicht viel zu. Vielleicht war ja gerade das der Grund für die Sympathie, die sie ihm entgegenbrachte. Sie beschleunigte wieder und steuerte einige Zeit später das Parkhaus an, das neben dem Betonklotz in den Boden gerammt worden war, in dem sie wohnte. Sie verfluchte den Schneematsch, als sie den nicht überdachten Weg vom Parkhaus zur großen Eingangstür ihres Wohnblocks beschritt. Zu allem Übel hatte es wieder angefangen zu schneien. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel, sie konnte kaum einen Meter weit sehen. Diese Gegend war so heruntergekommen, daß es nicht einmal eine unterirdische Verbindung beider Gebäude gab. Wahrscheinlich war das Parkhaus nicht einmal unterkellert. Das würde auch den widerlichen Gestank nach Moder und Verwesung erklären, der jeden ihrer kurzen Heimwege begleitete. In ihrer Wohnung angekommen, entledigte sie sich sämtlicher Kleidung und duschte ausgiebig. Während sie sich mit ihrem großen, weichen Schwamm von der ekelhaften Demütigung zu reinigen versuchte, überlegte sie, wie sie ihren ungehorsamen kleinen Liebling bestrafen könnte. Sie stieg aus der Wanne und hüllte sich in ihren flauschigen
Morgenrock, den sie anstelle eines Handtuchs zu benutzen pflegte. Sie
setzte Teewasser auf und ging ins Schlafzimmer, um sich Schlappen über
die nackten Füße zu ziehen. Ihr linker Fuß war immer noch kälter als der
andere, aber es war inzwischen auszuhalten. Sie sah in den Spiegel. Nein, die Straßen waren leer, und die bemitleidenswerten Beamten, die das Polizeirevier besetzen mußten, waren sicherlich zu müde oder zu angetrunken, um heute nacht auf Streife zu gehen oder zu fahren. Abgesehen davon hatten sie sicherlich besseres zu tun. 2 Und da irrte sich Claudia zum erstenmal für heute abend nicht. Klaus war mit letzter Kraft zur nächsten Polizeistation gelangt und hatte dort zwei Polizeibeamte angetroffen, die ihm fürs erste mit einem Becher heißem Kaffee und einem muffig riechenden Morgenmantel aushelfen konnten. Die Frage, was er denn um diese Zeit allein auf der Straße mache, beantwortete Klaus mit einer Geschichte, die die Beamten vorerst nicht glauben konnten. 3 Das Pfeifen des Wasserkessels riß Claudia aus ihren Gedanken.
Sie ging in die Küche, schaltete den Herd aus und brühte sich einen Tee
auf. Ihre Brillengläser beschlugen, und kurzfristig erblindet stellte
sie den Kessel auf eine kalte Herdplatte. Als sie sich nach einer Weile anschickte, den inzwischen wohl trinkbaren Tee in den Becher zu gießen, klingelte das Telefon. Sie zuckte so sehr zusammen, daß sie sich verbrühte. Fluchend stand sie auf, um das Mobilteil zu holen, das sie wieder einmal vergessen hatte, in greifbarer Nähe aufzubewahren. Wer sollte sie zu dieser späten Stunde noch anrufen? Hatte Klaus es wirklich geschafft, Unterschlupf zu finden? War er nicht, wie es zu erwarten war, längst der Kälte zum Opfer gefallen? Seine Kleidung hatte sie schließlich verbrannt, kurz nachdem sie ihn im Schulkeller in Gewahrsam genommen hatte. Nur seinen Rucksack, den er im Mülleimer in der Ecke deponiert hatte, hatte sie übersehen. Sie hatte es nur gut mit ihm gemeint, als sie ihm erlaubt hatte, sich ein Getränk zu holen. Wie hätte sie auch ahnen können, daß es sich dabei um eine volle Seltersflasche handelte? Er mußte sie dann mit der Pulle am Kopf erwischt haben. Sie überlegte, wie groß ihre Erinnerungslücke wohl war, und wurde sich zum erstenmal an diesem Abend des Pochens an ihrer linken Schläfe bewußt. Dieser Hosenscheißer hatte sie so sehr erwischt, daß sie ohnmächtig geworden war! Und dieser bedauernswerte Zustand hatte lange genug gedauert, um ihm die Flucht aus dem Keller zu ermöglichen. Sogar den Schlüssel muß er aus ihrer Handtasche genommen haben, denn die Tür hatte sie nach dem Eintreten von innen verschlossen. Einen Augenblick fragte sie sich, warum er sie nicht dort im Keller eingesperrt hatte, gab dann aber seiner verständlichen Angst, nicht schnell genug das Haus verlassen zu können, die Schuld. Plötzlich fiel ihr ein, was sie sonst noch in ihrer Handtasche aufbewahrte. Ihr Magen dankte ihr diese Erkenntnis mit einem Schmerz, der es mit den Folgen eines Messerstichs locker hätte aufnehmen können. Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Sie zog den Stecker aus der Dose. Als sie aus der Hocke wieder zum Stehen kam, wurde Ihr fast schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ein Schweißtropfen von ihrer Stirn perlte und ein Brillenglas benetzte, so daß sie die Wand, die sie anstarrte, nur verschwommen wahrnehmen konnte. Auf dem Weg ins Schlafzimmer nahm sie die Brille ab, um sie zu säubern. Claudia starrte auf ihre Handtasche, die sie nach ihrer Ankunft auf das Kopfkissen geworfen hatte. Sie schluckte trocken und öffnete den Verschluß. Ihre schlimmsten Vorahnungen wurden bestätigt: Nicht nur der Schlüssel zum Schulkeller fehlte, was zu erwarten war, nein, auch das Etui mit den Fotos ihrer Schüler war nicht mehr da. 4 "Hier, Herr Wachtmeister, diese Fotos habe ich in Frau Römers Handtasche gefunden. Ich kenne einige der Kinder, die dort abgebildet sind." Klaus deutete mit einem Finger auf eins der Fotos, die nebeneinander auf dem Tisch lagen. "Das hier ist Susanne, sie ist während der Klassenfahrt nach Niendorf verschwunden. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Und hier", er deutete auf ein anderes, "das hier ist Simon. Simon ist beim Schwimmen bei einer Exkursion letzten Sommer nicht wieder an den Strand zurückgekommen." Klaus nahm ein drittes Bild in die Hand, um es näher zu betrachten. Er stutzte. "Das bin ja ich!" Der Beamte zu seiner Linken nahm das Bild aus Klaus' Hand und gab ihm recht. Es lagen insgesamt zehn Fotos auf dem Tisch, einige bunt, andere schwarzweiß. Nach einer Weile hatte der andere Polizist den PC hochgefahren und festgestellt, daß es sich bei den anderen neun Fotografien um eine komplette Sammlung der in den letzten Monaten verschwundenen Kinder handelte. Seine Hände zitterten, als er die Fotos auf den Tisch zurücklegte. Er bat seinen Kollegen um eine Zigarette, der sich auch eine ansteckte. Daß alle diese Kinder verband, Schüler von Frau Römer (gewesen?) zu sein, war den Polizisten damals nicht aufgefallen. Sie hatten neben Nachbarn und Mitschülern natürlich auch die besorgte Klassenlehrerin befragt, aber sie natürlich nicht verdächtigt, etwas mit dem Verschwinden zu tun zu haben. Sie hatte sich stets kooperationsbereit gezeigt, ohne ihnen jedoch weiterhelfen zu können. 5 Claudia stand auf und ging zu ihrer kleinen Hausbar.
Sie trank selten, aber jetzt war sie froh, die Whiskyflasche, die ihr
das Kollegium zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, nicht abgelehnt
zu haben. Sie goß den Becher, der noch zur Hälfte mit Tee gefüllt war,
randvoll und nahm einen kräftigen Schluck. Die wohlige Wärme, die der
Tee in ihrem Magen hatte walten lassen, wurde vom heißen Brennen des Whiskys
ergänzt, was sie sehr begrüßte. Sie setzte sich und legte ihre Füße auf
den Couchtisch, um zu überlegen, wie sie sich aus dieser Misere herausmanövrieren
könnte. 6 Der Polizeibeamte legte den Hörer auf die Gabel. "Sie
scheint nicht zu Hause zu sein. Oder sie geht nicht ans Telefon. Vielleicht
schläft sie auch schon und hat ihre Telefone abgestellt." 7 Claudia fuhr schnell, und jede Kurve, die sie nehmen mußte, erschien ihr zu eng. Der Whisky wirkte stärker, als sie es geplant hatte. Aber dennoch erreichte sie nach etwa zehn Minuten unbeschadet ihr Elternhaus, einen alten Bauernhof, der seit Jahren nicht mehr bewohnt wurde. Sie stieg aus und öffnete die Haustür, die von Spinnenweben benetzt war. Normalerweise benutzte sie den Kellereingang. Sie entzündete die Petroleum-Lampe, die sie auf dem Garderobentisch aufzubewahren pflegte, und ging durch das Empfangszimmer weiter in die Wohnstube. In der Küche angekommen, schaltete sie die Sicherungen für das Erdgeschoß ein, und die Glühbirnen, die diese Störung ihrer jahrelangen Ruhe überlebten, ließen das Haus in neuem Glanz erstrahlen. Zufrieden stellte Claudia die Petroleumlampe auf den Küchentisch und wartete, bis sie ein Auto vorfahren hörte. 8 Klaus wurde unruhig, als der Polizeiwagen in die Straße
einbog, die er dem Beamten als Ziel vorgegeben hatte. "Sie können mich
hier aussteigen lassen, Herr Wachtmeister." Der Keller war staubig und roch nach Verwesung. Aber
ein anderer Geruch stieg dem Beamten in die Nase, während sie die Treppe
hinabstiegen. Er erinnerte ihn an den Geruch, der einem Umkleideraum anhaftete,
in dem er sich vor dreißig Jahren für die Turnstunde hatte umziehen müssen.
Turnstunden waren ihm immer zuwider gewesen. Die Kinder hatten die Schocksekunden entsetzten Schweigens schnell hinter sich gelassen und kreischten lauter denn je, wenn auch alles andere als erfreut. Sie rannten in den Raum zurück, aus dem sie eben befreit worden waren. Das letzte Kind zog die Tür hinter sich zu. Frau Römer stieg die Treppe herab. Mit jedem Schritt
wurde ihre Stimme lauter. "Hast du deine Lektion immer noch nicht gelernt?
Habe ich dich nicht gelehrt, dich zurückzuhalten? Solltest du nicht längst
auf deinem Zimmer sein? Was machst du überhaupt hier? Ich habe dir vertraut,
habe dir alles anvertraut, und jetzt bringst du die Polizei hierher!" 9 Das Telefon klingelte. Aber niemand nahm ab. Das Revier war nicht besetzt. Ein weiterer Krimineller durfte seine Tat ungestört beenden. 10 Eine Kugel in ihren Kopf sollte ihren Dienst tun. Klaus
ging in die Hocke, zielte genau und verfehlte sein Ziel nicht. Frau Römer
taumelte, gab einen Laut von sich, der dem Gurren einer Taube ähnelte,
und fiel um. Leblos rollte sie langsam sie Treppe hinunter, überschlug
sich dabei mehrfach, bis sie mit völlig verdrehten Gliedmaßen auf den
unteren beiden Treppenstufen liegenblieb. Die Pistole hielt sie fest mit
ihrer rechten Hand umklammert. Klaus stieg über die Leiche seiner Lehrerin hinweg und ging langsam die Treppe hinauf. Die erregten Stimmen der Kinder wurden leiser. Als er in der Küche ankam, waren sie kaum mehr zu hören. Nun ja, dachte Klaus, beliebt war er nicht bei den Kindern, da wollte er sich gar nichts vormachen, besonders nicht bei den neun, die hier waren. Er überlegte, was die Worte der Sterbenden eben hatten bedeuten sollen. Sie hatte alles nur für ihn getan? Hm, das würde natürlich erklären, weshalb sie alle Kinder, die ihn gehänselt oder verprügelt hatten, nach und nach hatte verschwinden lassen, aber warum hätte sie das tun sollen? Sie hatte zweifellos einen gewaltigen Sprung in der Schüssel, dessen war er sich sicher. Aber das machte jetzt auch nichts mehr, denn er mußte
seinem Vorhaben nachkommen, sich um seine Schulfreunde zu kümmern. Man
muß schließlich etwas zur Erhaltung der Klassengemeinschaft tun! Klaus konnte seinen Hunger kaum noch ertragen, wußte aber, daß es noch etwas dauern würde, denn ein Römertopf braucht seine Zeit. Dafür wurde das Fleisch aber auch sehr kalorienarm zubereitet. Das ist für Kinder mit leeren Mägen besser als fette, in Öl gebratene Keulen, auch wenn diese knuspriger werden. Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg er die Kellertreppe hinab. Die unteren drei Stufen überwand er mit einem ausgelassenen Sprung, bei dem die Fleischgabel aus der Schüssel klirrend zu Boden fiel. Die Eisentür, hinter der die Kinder sich verschanzt hatten, war immer noch geschlossen. Die Schreie waren einer aufgeregten Diskussion gewichen, alle redeten durcheinander. Klaus drehte den Schlüssel, der im Schloß steckte, zweimal um. Es sollte eine Überraschung werden. Ein Festmahl zur Versöhnung. Und er konnte es nicht leiden, bei seinen Vorbereitungen gestört zu werden. Nach reiflicher Überlegung entschied sich Klaus dafür, mit der Zubereitung ihres linken Oberschenkels zu beginnen. Frau Römer war gut durchtrainiert, aber im Römertopf wurde nichts so schnell zäh, wenn man den Deckel draufließ.
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