Wenn Freunde nicht mehr sind, was sie mal waren

Ich gewinne immer mehr den Eindruck, daß die Leute, die von früher schwärmen, eigentlich nur die ganze frühere Zeit über gehofft haben mußten, daß sie vorbeiginge, damit sie dieses nun endlich abgeschlossene Kapitel ihres Lebens schönreden können. Ihnen ist es heute bei jedem Atemzug wichtig, eine Trennung zwischen dem JETZT und dem FRÜHER zu betonen, das jetzt abgeschlossen ist. Vorbei, fertig, aus. Das ist einmal gewesen, und ganz gleich, wie es wirklich war, es war schön, und außerdem ist es vorbei. Gott sei Dank! denken sie im stillen, und während sie zur Uhr schielen, hoffen sie, daß der Besuch nun endlich müde wird und bald nach Hause geht.

Was ist denn nun dran an der guten alten Zeit, in der man sich vor Sehnsucht triefend Lügen in die leeren Gläser geweint hat? Wie schön war es doch, aus der Verneinung der eigentlich ganz normalen Dinge, die ein Menschenleben ausmachen, an denen wir selbstverständlich nicht teilhaben durften, einen unerreichbaren Mythos zu zeichnen? War es nicht immer wunderbar, neben gleichgesinnten Verlierern in Selbstmitleid zu ersaufen, während es den anderen immer so gut ging, daß wir sie schon fast um ihr Glück bemitleideten?
Ich schwärme nicht von früher. Jedenfalls nicht laut, und schon gar nicht vor dem Rest meiner früheren Freunde, die ich jetzt noch sehe. Entweder sie wissen es selbst, oder sie würden es nicht verstehen.

Einer dieser Freunde - ich war von ihm und seiner ersten wahren Liebe zum Kochen eingeladen worden - bestärkte mich in der oben genannten Vermutung. Die Heirat sollte bald stattfinden, hat sie dann auch, und wichtig dabei war, daß sie noch vor seinem 30. Geburtstag stattfand, um ihm Besenkehren usw. zu ersparen. (Sie heirateten an seinem 30. Geburtstag.)
Wir standen allein in der Küche, weil seine damals noch zukünftige Frau sich zum Mittagsschlaf zurückgezogen hatte, und er hielt die Weinflasche hoch, die ich kurz vorher geöffnet hatte. "Wie in alten Zeiten!", und ran an den Hals. Er trank aber nicht gierig, sondern so vorsichtig, daß er den Wein verschüttete, der bei einer senkrechten Flaschenhaltung natürlich in rauhen Mengen aus der Öffnung hinausfloß. Ohne sich damit lange aufzuhalten, setzte er wieder ab, trocknete Kinn und Hals und reichte mir die Flasche. Brav nahm ich einen kleinen Schluck - ich mochte den Wein nicht besonders. Nicht nur, daß wir auch in Extremsituationen niemals Wein aus der Flasche (auch keinen ALDI-Soave für 2.99) getrunken hätten - dieser Wein war zum Kochen (für den Braten) und vielleicht später zum Abwaschen gedacht (für den Tellerwäscher - also mich -, der nach dem Essen wahrscheinlich auch weit Schlimmeres getrunken hätte, während die zwei es sich vor dem Fernseher gemütlich machten). Nein, ich hatte, während sich besagter Freund für die halbe Stunde Nickerchen so zärtlich von seinem Schatz verabschiedete, daß ich mir sicher war, er wisse schon jetzt, daß sie sich niemals wiedersehen würden, zwei Gläser mit Sherry gefüllt, mit denen ich eigentlich anstoßen wollte. Wir stießen an.

Wie aufgesetzt die Weißwein-Aus-Der-Flasche-Aktion in der Küche war, zeigte sich auch für den blinden Betrachter spätestens, als nach einem viertel Schluck das Glas auf dem Küchentisch vergessen wurde. Ich kippte den Aperitif meines Gastgebers später in die Pfanne, als die Champignons anzubrennen drohten. (Das ebnete für mich und meine Kochkunst übrigens den Weg für den Grundsatz, niemals Champignons ohne Sherry zuzubereiten! Zur Nachahmung empfohlen:

Pilze mit Zwiebeln in Öl anbraten, vorher salzen, damit sie ordentlich Wasser lassen, pfeffern, Deckel drauf. Nach ein paar Minuten Deckel wieder hoch (es muß sich jetzt viel schäumende Flüssigkeit gebildet haben, sonst Deckel wieder drauf), umrühren, Flamme hochdrehen. Zugucken, wie die Flüssigkeit abnimmt, und im richtigen Moment den Sherry dazugeben. Nochmals umrühren und weiterbrutzeln lassen, nach einiger Zeit (es muß noch Flüssigkeit da sein!) Creme Fraiche einrühren, fertig. Jeder wird es loben!) (Tabasco und Cognac können auch nicht schaden, aber das ist nur etwas für Kenner.)

Das Essen war gut, und es gab dabei so wenig zu trinken, daß ich zwei Stunden später, als die beiden im Bett lagen (es war noch nicht einmal 23 Uhr, und das am Samstag!), den kompletten Ödipus durchlas und auch nach dessen Lektüre nicht schlafen konnte. Wie sehr konnte sich ein Mensch ändern! Mir schoß durch den Kopf, daß die Träume, Sehnsüchte, aber auch Pläne, auf die unsere Freundschaft beruhte und gut gedieh - wir brauchten nie einen Vorwand, um uns zu treffen, 30seitige Briefe zu schreiben (im Wochentakt) oder einfach nur zu schweigen - einzig und allein seiner Kompensation gedient haben mußten. Ich hatte zu jener Zeit zwei längere Beziehungen, er zwei kurze, die ihn wohl nicht glücklich gemacht hatten. Aber daß er die letzten 10 Jahre seines Lebens mit den Worten "Wie in alten Zeiten!" und einer an den Mund gesetzten Flasche billigen Weißweins zunichte machte, setzte mir doch gehörig zu und verursachte mir auch am nächsten Morgen noch die Magenschmerzen, die mir der nicht wie sonst getrunkene Alkohol diesmal erspart hatte.

Wenn ich ihn heute - 5 Monate später - unter einem Vorwand anrufe, ist er immer ganz überrascht, seine Frau irritiert, aber freundlich. Es steigert die Qualität einer jeden Liebesbeziehung, wenn man Freunde hat. Vergißt man sie und fängt an, sich an all das Glück zu klammern, das man auf diese Weise Stück für Stück verliert, wacht man eines Tages auf und stellt fest, daß man keine Freunde mehr hat. Es gibt ein Buch "Such dir Freunde, bevor du sie brauchst" oder so ähnlich. Ich möchte meinem guten alten Freund nichts Schlimmes prophezeihen - wahrscheinlich kommen bald die Kleinen, Seitensprünge wird es ebensowenig geben wie Sex nach 45, und außerdem ist es immer ein gutes Zeichen, wenn man nichts von Leuten hört. Wenn sie krank sind oder spätestens, wenn sie sterben, hört man es immer. Und davon einmal abgesehen bin ich der felsenfesten Überzeugung, daß auch nur ein kleiner Streit mit Türenknallen und ‚Ich fahre jetzt nach Hause' seitens der Frau (er würde nie gehen) dazu führen könnte, daß hier des Nachts eine alkoholgeschwängerte Stimme am Telefon auf alle Frauen dieser Welt schimpft. Früher war doch alles viel besser! Ach. Und dieses Mal würde ich es ihm sogar glauben.

Wenn Freunde nicht mehr sind, was sie mal waren.
(Ja, das ist wahr.)
Wenn sie dir nichts mehr geben, vergiß ihre Namen.
(Das ist bitter.)
Lieber Haß als gespielte Liebe
Ist alles, was wir fühlen, eine Lüge?

Was ist von all dem geblieben, von der Seelenverwandschaft, all der Sehnsucht, die uns so viele Nächte und so viele Gehirnzellen gekostet hat? Ist das alles vorbei? War's das? Wieder dieses schöne Wort: Kompensation?
Sind wir jetzt, in einer ganz anderen Zeit, an einem ganz andern Ort, in einer ganz anderen Zeit, an einem ganz anderen Ort? - Dumme Frage, natürlich sind wir das! Nur welche Bedeutung hat das für uns? Die Orte haben sich - ganz im Gegensatz zur Zeit - nicht wirklich gewandelt. Nur sucht man sich gegenseitig nicht mehr auf, sondern speist sich mit Ausreden ab. Es ist traurig, einzusehen, daß man selbst die Scheinargumente entgegengebracht bekommt, über die man noch ein halbes Jahr zuvor gemeinsam gelacht hat. Noch trauriger ist es, zu erkennen, daß der ehemals beste Freund sich jetzt, wo er gebunden ist, nicht einmal mehr richtig Mühe gibt, den eigentlichen Sinn der Absage zu vertuschen. (Vorausgesetzt, es gibt überhaupt einen außer der gemütlichen Couch vor dem Fernseher, an die man sich so schnell gewöhnt hat, daß man kaum mehr aufstehen mag, um zur Haustür zu gehen.)
"Ob wir" - erste Person Singular seit der Heirat ausgestorben - "an deinem Geburtstag vorbeikommen können, weiß ich noch nicht. Das wird alles recht kurzfristig, weißt Du. Und meine Magisterarbeit..."
- Mein Geburtstag!!! -
Denn JETZT ist alles anders, JETZT sind wir in festen Händen, und wir denken peinlich berührt lächelnd, aber auf keinen Fall lachend an jene Zeit zurück, in der wir - ganz im Gegensatz zu HEUTE - noch das alles nicht VERSTANDEN haben, was eigentlich vor sich geht. Das Leben weist uns den Weg, nicht umgekehrt, und es zeigt uns, was wirklich wichtig ist.

Da sind z.B. die ersten Schreibversuche eines Säuglings (selbstverständlich auf dem Computer, denn PAPIER benutzt ja ohnehin bald niemand mehr), von seinen Eltern in Form einer Ketten-Email an alle verfügbaren Adressen verschickt.
Da sind - oh ja, auch das ist ein schönes Thema: Die Studenten, oder besser: die StudentInnen, was die Masse der zukünftigen BildungesträgerInnen treffender beschreibt.

Anfang dieses Jahres sah ich mich in einem kurzfristigen Anflug von Enthusiasmus und Engagement genötigt, dem Musik-Trakt unserer Universität zu mehr Geld zu verhelfen, und da uns Musikstudenten nahegelegt worden war, auf jeden Fall für diese und jene Kandidaten zu stimmen, machte ich mich mutig auf zum Wahlbüro, welches unglücklicherweise gefährlich nah am Asta-Shop angesiedelt war.
Nachdem ich dort erfahren hatte, daß mein Wahlbereich sich nicht mit dem deckte, was mir zu unterstützen wichtig war, ließ ich die freundliche Helferin wissen, daß ich unter diesen Umständen kein Interesse an einer Wahl hätte. Mein Hauptfach war Musik, und - was ich bis auf den heutigen Tag nicht verstanden habe - warum in aller Welt kann ich dann nicht für Leute aus der Fachschaft Musik stimmen?
Doch so einfach ginge das nicht, sagte die Helferin, die ihre gepiercte Stirn krausgezogen hatte. Aber dann fand sie schnell ihr Lächeln wieder. Dabei schlug der silberne Knopf, der zwischen Unterlippe und Kinn angebracht war, gegen ihre unteren Schneidezähne. "Auch wenn du nichts ankreuzt, mußt du die Zettel auf die entsprechenden Urnen verteilen, weil wir haben dich ja schon in der Kartei, hier auf der Liste."
Nachdem sie mir klargemacht hatte, daß man den Namen nicht einfach nur streichen konnte, zählte ich meine 10 Zettel, die auf mindestens 30 Urnen gezielt verteilt werden mußten. Ich machte mich an die Arbeit, aber auch nicht zuletzt wegen des großen Andrangs konnte ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, die letzten sechs Zettel gemeinsam in eine Urne zu entsorgen.
So. Nichts wie raus hier, ich ersticke gleich!
Auf dem Gang standen ein paar gutgelaunte Studenten Mitte Zwanzig, die sich angeregt unterhielten. Aber es erwischte mich, obwohl ich gerade versuchte, mich an der Gruppe vorbeizuschleichen:
"Hi! Na, alles klar? Hoffentlich auch das Richtige gewählt! Haha! Schluck Sekt?"
"Nein, danke."
"Oder Cola? Saft?"
"Nein, ist schon OK, ich hab keinen Durst."
"Gar nichts?"
"Nein, ich muß jetzt auch los."
"Warte!" Er nippte an seinem Becher, der mit warmen Faber-Sekt (jede Wette!) gefüllt war, und tauschte einen kichernden Blick mit seiner Kommilitonin, die neben ihm stand. Dann bemühte er sich wieder, ganz vernünftig zu sein, und sprach mit tiefer Stimme wie ein Vater zu mir, der seinem Sohn augenzwinkernd ein unwiderstehliches Angebot macht: "Vielleicht Interesse, einen Wunsch für das Uni-Film-Festival nächsten Donnerstag anzugeben?" (Das Lächerliche dabei war, daß er ungefähr einen Kopf kleiner war als ich und immer ein bißchen zu mir hochgucken mußte, obwohl mein Gang inzwischen auch nicht mehr so aufrecht war wie am Morgen.) "Oder einen Liederwunsch für die After-Film-Party im Asta-Clubhaus? Das ist doch ..."

Ich ging, ohne mich noch länger aufzuhalten, die Treppe herunter. Ich studiere hier nicht, um im Lesben-Café Yogi-Tee zu trinken und längst tote Themen totzureden. Laß-mich-einfach-in-Ruhe. Ich freute mich schon darauf, mit den heiligen Liedern nach Hause zu fahren und diesen ganzen Müll zu vergessen, der mir widerfahren war. Warum bin ich auch zu dieser Wahl gegangen? Es nützte ja doch alles nichts!
Im Auto drehte ich die Heizung voll auf, zog Jacke und Pullover aus und fuhr los. Es war ein wunderschöner Wintertag. Auf der Landstraße fuhr ich langsam, um mehr von der herrlichen Landschaft mitzubekommen. Der Fluß, den ich nach kurzer Zeit überquert hatte, war von Eisschollen bedeckt, der See zugefroren. Einige Kinder liefen Schlittschuh. Die Bäume ringsherum ragten wie die Beine von Störchen aus dem weißen Traum heraus. Vögel kamen und gingen. Ich mußte einen Schwertransporter überholen. Er fuhr im Schneckentempo, pustete mir seinen Diesel-Gestank entgegen, aber vor allem nahm er mir die herrliche Sicht. Ich drehte mich um, schaltete einen Gang runter und drückte das Gaspedal durch.
Bald hatte ich wieder freie Bahn und sah den LKW im Rückspiegel immer kleiner werden. Aber ich wollte nicht zurück sehen. In keiner Hinsicht. Nur nach vorne. Jede Art von sentimentaler Vergangenheitssehnsucht ist mir ein Greuel.

(Herbst 1999) (Interessant ist auch die Diskussion dieses Textes auf www.kurzgeschichten.de)

(Das Zitat in der Mitte (Wenn Freunde ...) ist von den Onkelz: "Zeit zu gehn", 1992 auf "Heilige Lieder")